Wie
Geschichte lebendig wird
Josef
Niebur erzählt vom Schicksal der jüdischen Familie Landau.
Sein Werk verbindet die belegten Daten mit fiktiven Dialogen.
Lehrer sollen ihren Schülern damit das Thema Holocaust nahe bringen.
Von
CAROLA BORKERT
BOCHOLT.
Die Idee entstand, als Josef Niebur vor zwei Jahren ins Euregio-Gymnasium
eingeladen wurde: Vor den fünften und sechsten Klassen sollte der
Geschichtsforscher vom Holocaust erzählen. Aber wie bringt man Kindern
dieses Thema nahe? „Mir war klar, Daten und Fakten schrecken eher
ab", erzählt Niebur. Ein persönliches Schicksal dagegen könnte die
Jugendlichen packen. Und so dachte Niebur sich eine Geschichte aus, die
jetzt als Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe I – also die fünften
bis zehnten Klassen aller weiterführenden Schulen – aufgearbeitet wurde
und in diesen Tagen an die Lehrer
verteilt
wird.
Unter dem Titel: „Herr Becks, Herr Becks, die bringen uns um..."
erzählt Niebur die fiktive Geschichte der Bocholter Familie Landau.
„Die Familie hat es wirklich gegeben", betont Erster Stadtrat Bernd
Hagmayer, der das Werk gestern öffentlich vorstellte. Doch Niebur hat ihr
Erlebnisse zugeschrieben, die andere Juden gemacht haben. Denn die Überlieferungen
aus der Nazizeit in Bocholt sind sehr lückenhaft. Niebur forscht an dem
Thema schon seit über 20 Jahren. Unter anderem befragte er über 50
Zeitzeugen, forschte in Archiven und schrieb Bücher. So ergab sich ein
riesiges Mosaik, ein „Flickenteppich an historischen Wahrheiten",
die Niebur jetzt zu einer Geschichte verdichtete. Die beschriebenen Daten
– Heirat der Eheleute Cilli und Ernst Landau, Geburt von Sohn Leo, die
Umzüge der Familie, die Deportation 1941 und die Ermordung der gesamten
Familie – sind belegt; die Dialoge dagegen sind zwar so gesprochen
worden, aber nicht von Cilli und Ernst Landau. Sie stammen aus den
zahlreichen Interviews mit Bocholter Zeitzeugen.
Mit der Hochzeit der Landaus 1935 beginnt die Geschichte, dann erzählt
sie, wie das Ehepaar immer stärker ausgegrenzt wird, wie der Mann die
Kapelle des Schützenvereins verlassen muss, wie die Familie von den
Nachbarn aus mehreren Wohnungen geekelt, wie Sohn Leo angefeindet wird. Im
Herbst 1941 stürmt Cilli Landau mit einem Brief in das Lebensmittelgeschäft
von Karl Becks. Es ist der Deportationsbescheid: „Herr Becks, Herr
Becks, wir haben Bescheid. Wir müssen weg. Die bringen uns um!",
ruft Cilli. Und sie behält Recht.
Erst können die Landaus ihren Sohn in Riga zwar noch vor dem sicheren Tod
bewahren, als sie ihm verbieten, einen Schlitten zu besteigen, der die
Alten und Schwachen ins Getto bringen soll. Er kommt dort nie an. Doch
dann werden Leo und Cilli wenig später bei einem Appell im Schnee
erschossen, weil der Junge leise über die Kälte klagte. Auch der Vater
wird später in Riga ermordet.
Hauptanliegen der Erzählung, so Niebur, sei, „dass Ereignisse, wie sie
in dieser Geschichte beschrieben werden, nie wieder geschehen können".
Die Lehrermappe enthält deshalb nicht nur die Geschichte, sondern auch
Worterklärungen und Informationen über nahe Synagogen, die mit den Schülern
besichtigt werden
können.
Einen zweiten Teil der Unterrichtsmaterialien zum Thema Holocaust und
Deportation hat Niebur schon in Arbeit. Es sind über 80 Dokumente von
1933 bis 1980, die allerdings erst noch pädagogisch aufbereitet werden müssten.
„Dann könnte das für ältere Schüler interessant sein", meint
Niebur.
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